Erinnerungsecho (02)

Als ich Kind war, stand im Bücherregal meiner Mutter ein Exemplar von Auerbachs Kinderkalender, Jahrgang 1942. Mit Wasserflecken und Brandspuren übersät, rettete mein Großvater das Buch nach einem Bombenangriff aus der brennenden Wohnung in Berlin. Ein paar andere Bücher standen auch im Regal, Grimms Märchen, Gustav Schwabs Sammlung der Sagen des klassischen Altertums; allen sah man an, dass sie gerade noch den Flammen entrissen wurden.

 

In der Nachbarwohnung in der Martin-Luther-Straße 60* in Schöneberg lebten Arthur und Toni Leiser, ein älteres Ehepaar. Er war erblindet, meine Mutter erinnert sich noch daran, dass die beiden immer erst nach Einbruch der Dunkelheit mit ihrem Schäferhund spazieren gingen. Und sie erinnert sich daran, dass es im August 1942 abends an der Tür klingelte. Meine Mutter lag schon im Bett und lauschte mit gespitzten Ohren, wer der späte Besucher wohl sein mochte. Meine Großmutter öffnete die Tür; Toni Leiser stand davor und drückte ihr ein Buch in die Hand. Sie wollte sich bedanken – für Unterstützung und Hilfe, für geteilte Lebensmittelmarken und Besorgungen, die meine Großeltern für die beiden erledigten. Und sie verabschiedeten sich, am Abend des 4. August 1942. Am darauffolgenden Tag wurden sie vom Anhalter Bahnhof mit dem Zug deportiert: Nach Leitmeritz, von dort mussten sie zu Fuß ins Konzentrationslager Theresienstadt marschieren. Arthur Leiser ist dort am 11. Februar 1943 gestorben, seine Frau Toni nur wenige Monate später, am 14. Mai 1943. Sie sind verhungert. Tonis letzte Spur ist ein Eintrag in der Liste des Krematoriums Theresienstadt.

 

Die gemeinsame Tochter Gerda heiratete im Februar 1935; bereits im November desselben Jahrs, nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze, wurde die Ehe wieder geschieden. 1938 emigrierte Gerda Leiser Fritzen zunächst in die USA; von dort aus wollte sie, das geht aus erhalten gebliebenen Passagierlisten hervor, eigentlich nach Shanghai weiterreisen. Über Zwischenstationen in New York und Detroit blieb sie schließlich in Chicago, bei ihrem zweiten Mann Erich Blumenthal, den sie 1938 heiratete. Mit Hilfe des American Jewish Joint Distribution Committee versuchte Gerda, ihre Eltern in die USA zu holen. Aus einem Zahlungsbeleg geht hervor, dass sie im Oktober 1941 den hinterlegten Betrag von 400 Dollar abzüglich zwei Dollar und fünfzig Cent Gebühren zurückerstattet bekam. Es gelang ihr nicht mehr, den Eltern zu helfen. Nur kurze Zeit später wurde das Ehepaar Blumenthal eingebürgert, sie legten ihre Geburtsnamen ab:  Gerda wurde zu Gela Jane Benton, Erich Blumenthal nannte sich Eric C. Benton und wurde 1942 zur US-Army einberufen.

 

Es waren vier Brüder: Arthur Leisers jüngerer Bruder Berthold ist verschollen; Georg Leiser verließ am 14. Juli 1944 morgens um 7.45 Uhr seine Wohnung in Frankfurt und wurde drei Tage später ertrunken aus dem Main geborgen. Karl, der jüngste der Brüder, hat den Holocaust überlebt und starb 1950 an Krebs.

 

תנוח על משכבך בשלום.

 

Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts am 27. Januar sind hier ihre Namen, Geburts- und Sterbedaten – in Erinnerung an Nachbarn, die Freunde meiner Großeltern waren:

 

Arthur Leiser, geboren 8.5.1871 – gestorben 11.2. 1943/Theresienstadt
Toni Leiser geb. Maschke, geboren 8.11.1880 – gestorben 14.5.1943, Theresienstadt
Berthold Leiser, geboren 1874 – Todesdatum/Ort unbekannt
Georg Leiser, geboren 1876 – gestorben 14.7.1944/Frankfurt am Main (ertrunken)

Georg Leisers Name findet sich auf einer Liste jüdischer Menschen, die im Arolsen Archiv einsehbar ist – unter den Todesursachen sind Ertrinken, Vergiftung, Gasvergiftung, Cyankali aufgeführt.

 

Die Überlebenden:
Gerda Leiser Fritzen, später Gela Jane Benton, geboren 2.2.1904/Stettin – gestorben 18.2.1992/Chicago
Erich Blumenthal, später Eric C. Benton, geboren 28.8.1899 – gestorben 1986/Chicago
Karl Leiser, geboren 1877 – gestorben 1950


 

Nachtrag: Arthur Leiser und seine Frau Toni sind nicht vergessen – für sie sind in der Martin-Luther-Straße 107* (ehemals Hausnummer 60) zwei Stolpersteine verlegt. Ihre Namen sind auf die Informationen des Holocaust Gedächtniszentrums Yad Vashem verlinkt. Bei einer virtuellen Ortsbegehung stellte sich dann heraus, dass die beiden Stolpersteine nicht am falschen Ort platziert wurden: Die Nummerierung der Straße wurde nach dem Krieg geändert, die »Ortsmarke« in den Kindheitserinnerungen meiner Mutter war das frühere Olaplex-Gebäude.