Erinnerungsecho (01)

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In meinem Notizbuch liegt dieses Foto meiner preußischen Großmutter Ilse, entstanden an ihrem Geburtstag Anfang Juli, sie trägt Bubikopf und ein weißes Kleid. Rechts im Bild stehen ihre Eltern, drumherum ihr »Kränzchen« aus Freundinnen und Freunden. Über Ilses Schulter schaut einer ihrer besten Freunde: Herbert Zerkowsky. Geboren 1909 in Berlin als jüngster Sohn einer jüdischen Familie, die zum Freundes- und Kundenkreis meiner Urgroßeltern gehörte. In den 30er Jahren, nach dem Tod des Vaters und nur wenige Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, emigrierte er gemeinsam mit seiner Mutter Emma nach England. Weil auch damals Aufenthaltsgenehmigungen und Staatsbürgerschaft nicht ohne weiteres zu erlangen waren, heiratete Herbert 1937 eine junge britische Designerin, Elvira Willa Gay; ihre Ehe blieb kinderlos.

Herberts großer Bruder Martin, dessen Frau sich Ende 1933 von ihm scheiden ließ, zog nach s’Gravenhage und holte seine Schwester Frieda, ihren Mann Max Moses Grünbaum und den gemeinsamen Sohn Ernst Günther zu sich in die vermeintlich sicheren Niederlande. Als nunmehr britischer Staatsbürger nahm Herbert Zerkowsky in den ersten Kriegsjahren noch einmal das Risiko eines Besuchs in Berlin auf sich. Ein letztes Mal besuchte er seine Jugendfreundin Ilse, brachte ihrer kleinen Tochter Süßigkeiten und ein Plüschtier mit, um nach einem Besuch bei Frieda, Max und Martin in s’Gravenhage nach England zurückzukehren. Vergeblich hatte er versucht, sie zur Emigration zu bewegen. 1943 wurden Herberts Angehörige zunächst in Westerbork interniert. Martin Zerkowsky wurde am 8. Juni 1943 nach Sobibor deportiert, wo er drei Tage später ermordet wurde – ebenso wie seine Frau Gertrude Zerkowsky-Halle und ihre fünfzehnjährige Tochter Eva.

Frieda, Max und Ernst Günther Grünebaum deportierten die Nazis ein paar Monate später, am 18. Januar 1944 -zunächst von Westerbork nach Theresienstadt. Am 1.10. wurden sie dort mit rund 1500 weiteren jüdischen Menschen in einen Zug gepfercht, der am 3.10.1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau eintraf. Noch am Tag ihrer Ankunft wurden Frieda und Max in den Gaskammern ermordet. Ihr älterer Sohn Alfred Walter wurde bereits am 30.9.1942 in Auschwitz umgebracht. Als Auschwitz im Januar 1945 teilweise geräumt wurde und die Deutschen einen Großteil der Häftlinge auf »Todesmärsche« schickten, muss auch Ernst Günther Grünebaum unter ihnen gewesen sein. Am 28.2.1945 starb der junge Mann – nur einen Tag nach der Befreiung von Auschwitz durch die sowjetische Armee.

Jahrelang bemühte sich Herbert Zerkowsky darum, seine Angehörigen zu finden. Ende der 40er Jahre erfuhr er von ihrem Schicksal. Nach dem Tod seiner Mutter Emma 1949 änderte er seinen Namen zu Herbert Kenneth Paul, wohnte und arbeitete als Fotograf unter der Adresse 120, Paramount Court/University Street, London. Beruflich erfolgreich, gehörte Herbert Kenneth Paul zu den Gründern einer britischen Fotografenvereinigung, die sich für Urheberrechte und Honorarbedingungen seines Berufs einsetzte.  Nie wieder wollte er etwas mit dem Land zu tun haben, aus dem er emigrierte und das seine Familie ausgelöscht hat. Die Namensänderung war das äußere Zeichen des endgültigen Bruchs mit Deutschland, seiner Heimat und die der Mörder seiner Familie. Anfang der 50er Jahre wurden die Briefe an die Jugendfreundin seltener; ein geplanter London-Besuch meiner Mutter, mit der er in englischer Sprache einen nicht erhaltenen Briefwechsel pflegte, scheiterte. Irgendwann kamen gar keine Briefe mehr.

Herbert Kenneth Paul, der nie wieder nach Deutschland zurückkehrte, starb am 18. Oktober 1968 in London. Meine Großmutter sprach sehr selten von ihm und seiner Familie. Wenn ich sie fragte, erzählte sie ein wenig von einem schneidigen jungen Mann mit dunklen Augen – und versank in schweigender Traurigkeit.

Was dem Jugendfreund meiner Großmutter zu seinen Lebzeiten nur bruchstückhaft gelang, ist heute dank Internet und Datenbanken möglich: Die Spuren seiner Familie zu finden, in den Listen der Holocaustopfer in Yad Vashem, den Niederlanden und anderen öffentlich zugänglichen Aufzeichnungen. Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts am 27. Januar sind hier ihre Namen, Geburts- und Sterbedaten:

Martin Zerkowsky, 5.12. 1893 – 11.6.1943/Vernichtungslager Sobibor
Gertrud Zerkowsky-Halle, 4.7.1897/Posen – 11.6.1943, Vernichtungslager Sobibor
Eva Zerkowsky, 25.7.1927/Wandsbek – 11.6.1943, Vernichtungslager Sobibor
Frieda Grünebaum, geb. Zerkowsky, 11.5.1895/Posen – 3.10.1944/Auschwitz
Max Moses Grünebaum, Mann von Frieda, 7.4.1888 – 3.10.1944/Auschwitz
Ernst Günter Grünebaum, Sohn von Frieda und Moses, 9.9.1927/Görlitz – 28.2.1945, Ort unbekannt
Alfred Walter Grünebaum, Sohn von Frieda und Moses, 28.5.1920/Görlitz – 30.9.1942, Auschwitz

Die Überlebenden:
Emma Zerkowsky, geb. Bein, 25.4.1875 in Hamburg – 5.12.1949 in London.
Herbert Emil Zerkowsky, später Sir Herbert Kenneth Paul, 27.2.1909/Berlin – 18.10.1968/London

תנוח על משכבך בשלום.

Vielleicht verstehen wir Geschichte erst im Nachhinein, wenn uns Liebe, Lachen, Trauer derer berührt, die erzählten. Sie werden weniger, sterben und ihre Stimmen sind fort. Es ist an uns, den Lebenden, weiter zu erzählen und zu erinnern: Daran, dass die Lebenden nicht verantwortlich sind für die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart und vor allem die Zukunft. Daran, dass wir alle Teil dieser Geschichte sind und deswegen verantwortlich dafür, ihre Wiederholung zu verhindern.

(Die Namen der ermordeten Mitglieder der Familie Zerkowsky/Grünebaum sind auf die entsprechenden Informationen der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem/Israel, des Arolsen Archivs sowie auf das Archiv des Joodsmonument der Niederlande verlinkt.)

Nachtrag: Am International Holocaust Remembrance Day sah ich auf Facebook Fotos von Christiane Nitsche-Costa, die das Nationaal Holocaust Namenmonument in Amsterdam besucht und fotografiert hat. Gestaltet von Daniel Libeskind, eröffnet im September 2021, steht das Denkmal im Zentrum des Jüdischen Viertels in Amsterdam. Die Ziegelsteine tragen die Namen der 102.220 deportierten, getöteten Juden, Sinti und Roma aus den Niederlanden, unter ihnen Frieda Zerkowsky Grünebaum, ihr Mann Max Moses Grünebaum, ihre gemeinsamen Söhne Alfred Walter und Ernst Günter sowie Herberts älterer Bruder Martin Zerkowsky, seine Frau Gertrud Zerkowsky-Halle und die gemeinsame Tochter Eva.

Nachtrag II: Im jüdischen Archiv in den Niederlanden existiert eine Liste des Wohnungsinventars der Familie Zerkowsky.

Nachtrag III: Es gibt zwei weitere Folgen der Erinnerungsechos, die sich aus den Recherchen und den zusammengefügten Puzzleteilen ergeben haben; für Teil 2  bitte hier klicken , Teil 3 ist hier zu finden.

Nachtrag IV: Man kann für die Ziegelsteine des Nationaal Holocaust Namenmonument in Amsterdam Patenschaften übernehmen. Es war mir ein tröstlicher Gedanke trotz der Trauer über Herbert Zerkowskis Geschichte, dass es heute einen Ort gibt, den er zum Trauern nie hatte; weswegen ich Patenschaften für die Gedenksteine der beiden jüngsten Mitglieder seiner ermordeten Familie übernommen habe. 

Am ehemaligen Wohnort seines Bruders Martin, dessen Frau Gertrud und ihrer Tochter Eva wurden vor Kurzem Stolpersteine verlegt.

Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Juliane Gareis

    Dass Du das alles so recherchiert hast mit allen Daten verdient den größten Respekt. Deine Familienchronik ist wirklich interessant und liest sich sehr spannend. Danke für die Einblicke.
    Juliane

    1. Heike Rost

      Es gab Bausteine aus Erzählungen meiner Großmutter, an die ich mich erinnerte. Notizen, die ich mir dazu gemacht habe »für irgenwann mal«. Dann kamen extremistische, identitäre, neofaschistische Gruppierungen, die immer lauter werden, beflügelt durch ein Virus und dessen Auswirkungen. Und der Gedanke, das alles genauer zu rekonstruieren, mit Zahlen, Daten und Fakten auch aus Erinnerungen meiner Mutter, der ich gelegentlich ein Loch in den Bauch frag(t)e.

      Geschichte ist »näher dran« an vielem, als man glaubt oder zu wissen glaubt.

  2. Paul Hahn

    Dankeschön, liebe Heike, für diese persönliche Erinnerung. Kürzlich sah ich das Dokudrama „Die Wannseekonferenz“ im ZDF. Deine Oma verknüpfte das anonyme Grauen der mörderischen Bürokraten vom 20. Januar 1942 mit bekannten Menschen. Das brachte mich noch mehr zum Weinen als der Film. Nie wieder Nazis an die Macht.

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