Erinnerungsechos (04)

Kürzlich fand ich in einer kleinen Schachtel im Keller ein paar vergilbte Fotos. Meine preußische Großmutter Ilse ist darauf zu sehen. Mit ernstem Gesicht, Pelzkragen und schicker Frisur ungefähr Ende der 20er Jahre, um ihren 21. Geburtstag herum. Eine junge Frau, ernst, weil nicht allzu lange zuvor ihr Vater starb. Sein Unternehmen, eine erfolgreiche Firma der Textilbranche, ist in den Wirren der großen Weltwirtschaftskrise bankrott gegangen. Die Anstrengungen, seine Familie vor den Folgen zu bewahren, haben Ilses Vater das Leben gekostet: Sein Herz blieb stehen, sie hat ihn morgens tot in seinem Bett gefunden. »So friedlich, mit einem Lächeln, ich habe ihn lange nicht mehr lächelnd gesehen« sagte meine Omi, wenn sie von ihrem Vater erzählte. Ihre Mutter Elisabeth Charlotte Viktoria wurde unsanft aus dem Leben einer höheren Tochter mit Klavier- und Malunterricht, mit Stick- und Spitzenklöppelkünsten katapuliert – in die Rolle einer alleinerziehenden Mutter für den kleinen Bruder meiner Großmutter. Elisabeth als Familienmanagerin mit zwei Mietshäusern in Berlin, als Insolvenzverwalterin der Firma ihres Mannes – ein wahrhaft abrupter Richtungswechsel, zu dem auch die glühende Verehrung eines kleinen Gefreiten aus Österreich gehörte. Das hat dann innerhalb der Familie zu Turbulenzen geführt: Meine Großmutter nannte Hitler nur »das Ungeheuer mit der Rotzbremse« und sprach zeitweilig nicht ein Wort mit ihrer Mutter.

 

Einen Zeitsprung von über zehn Jahren illustriert das nächste Foto aus der kleinen Schachtel. 1941 entstanden, zeigt es meine Großmutter mit ihrer kleinen Tochter – meiner Mutter. Es war die Zeit der ersten größeren Bombenangriffe auf Berlin: Kurz zuvor erlag die Schwiegermutter Selma einem Herzanfall, ein enger Freund starb auf einem Versorgungsschiff für die Rommel-Truppen in Nordafrika. Ilse trägt deswegen auf dem Foto Trauerkleidung. Das Kind Renate schaut ernst in die Kamera. »Ich mag nicht schlafen,« sagte die Kleine damals zu ihren Eltern, »kommt ja doch gleich Alarm.« Die erste gemeinsame Wohnung mit der zusammengesparten Einrichtung brannte Ende 1940 aus, als die Luftangriffe vor allem den Norden Berlins trafen. Aus dem Wedding, wo der Onkel seine Tierarztpraxis hatte, zog die Familie damals um in die Wohnung der Schwiegereltern in der Martin-Luther-Straße 60. Das erste Mal ausgebombt, bis auf ein paar Kleidungsstücke, wenigen Büchern und Spielzeug für die kleine Renate konnten Ilse und ihr Mann Heinrich nichts retten. In den Erzählungen meiner Großmutter ist diese Zeit von vielen Verlusten geprägt: Der nach England emigrierte Jugendfreund Herbert Zerkowski, Hans-Georg Spiegel bei Kerkenah gefallen, der kleine Bruder Werner eingezogen und nach Russland versetzt, die jüdischen Nachbarn und Freunde nach und nach deportiert.

 

Nur ein paar Jahre später ist dieses Foto meiner Großmutter entstanden: für eine neue Kennkarte und den Führerschein. In ihrem Gesicht sind ihre Erlebnisse erahnbar. Zweimal ausgebombt, auch die Wohnung in der Martin-Luther-Straße fiel einem Bombenangriff zum Opfer. Evakuiert nach Brandenburg, in den kleinen Ort Keller bei Lindow in der Mark. Dort, wo der Schwager Herbert an Typhus starb, seine Witwe versuchte, sich das Leben zu nehmen und ihren kleinen Sohn zu töten. Dort, wo die kleine Renate allein bei weitläufigen Verwandten war, die Leuchtspurmunition und den Feuerschein über Berlin sah, das Dröhnen von Bomben und Geschützen – und wusste, dass ihre Eltern in Berlin sind, um zu retten, was vielleicht noch zu retten sein könnte. Was die Sechsjährige nicht wusste: Ob ihre Eltern zurückkehren würden zu ihr. Das taten sie, nach zwei Tagen, die Ilse und ihr Mann Heinrich zu Fuß von Berlin nach Keller liefen. In das Dorf, wo die Familie die Gewalt sowjetischer Soldaten erlebte, die das Dorf besetzten, viele Frauen vergewaltigten und durch das Fenster im Erdgeschoss einer Getreidehandlung in das Zimmer der Geflüchteten eindrangen. Dass meine Oma einer Vergewaltigung entging, weil sie als ausgebildete Pianistin und Sängerin den verantwortlichen Offizier erst mit ihrem Klavierspiel zum Weinen brachte und anschließend mit russischem Wodka und selbstgebranntem Fusel aus dem Dorf unter den Tisch gesoffen hat, ist eine der wenigen amüsanten Anekdoten aus schlimmer Zeit.

 

Zwischen den Porträts meiner Großmutter liegen ungefähr 15 Jahre. Sie im Wissen um das »Dazwischen« zu betrachten, berührt mich immer wieder. Denn soviel Erlebtes blieb bis heute: Die tiefe Abneigung gegen Feuerwerk und Böller, die meine Mutter bis heute nicht losgeworden ist. Ihre Weigerung, trotz Problemen mit Treppen im Erdgeschoss zu wohnen. Oder auch ihre Unfähigkeit, in Räumen zu schlafen, deren Fenster nicht fest verriegelt und die nicht vollständig dunkel sind. Kurz bevor das Kennkarten-Foto von Ilse entstand, starb ihr kleiner Bruder: »Für Volk und Vaterland….« stand auf der vorgedruckten Karte, die mitsamt Eisernem Kreuz im Briefkasten lag. Zum Entsetzen meiner Urgroßmutter, die den Heldentod ihres Sohnes zwar betrauerte, aber dennoch seltsam stolz war, packte meine Omi die Orden zusammen.  »Spinat und Besteck« (die despektierliche Bezeichnung für eine Auszeichnung namens »Eichenlaub und Schwerter«) flogen in hohem Bogen in den Müll. In der Nacht nach der Todesnachricht erlitt Ilse eine Fehlgeburt, an der sie fast verblutet wäre. Der kleine Bruder meiner Mutter, der nach seinem Onkel Werner hätte heißen sollen, wurde in einem namenlosen Grab in Brandenburg bestattet, in dem meine Großeltern auch zwei steifgefrorene Babyleichen beerdigten, die ein Flüchtlingstreck aus Ostpreußen am Wegesrand zurücklassen musste.

 

Und Werner, der junge Mann mit den dunklen Augen, dem ich nach Meinung meiner Großmutter und auch meiner Mutter so sehr ähnele? Er war in der Ukraine stationiert, in der Nähe von Cherkassy. In einem kleinen Ort namens Gorodishche, Hals über Kopf verliebt in eine bildhübsche Ukrainerin mit blonder Zopfkrone. Ein junger Mann voller Hoffnung und Träume, zu denen auch gehörte, sich von seiner Verlobten, Tochter eines Rittergutseigentümers aus Glogau, zu trennen – und das ukrainische Mädchen zu heiraten. Nach dem Krieg. 1944 kam Werner dort beim einem Angriff der Sowjetarmee ums Leben. Weil Granatbeschuss nicht viel Identifizierbares von ihm übrig ließ, gibt es kein Grab.* Dort, wo heute wieder Krieg ist.

 

»Der Krieg sei verflucht.« (Aus dem Lied der Mutter Courage von Bert Brecht)

 

*Auch Hans-Georg Spiegel, der am 16. April 1941 in der Schlacht von Kerkenah mit seinem Nachschubtransportschiff beschossen wurde und dort starb, hat nie ein Grab bekommen. »Bestattet auf See« steht im Register des Standesamts Berlin. Was aus seiner Familie wurde, habe ich noch nicht herausfinden können. Nur, dass seine Mutter Justine (gebürtige Freiin von Seydlitz Kurzbach) in den 60er Jahren in Fulda starb und dort ihre letzte Ruhe fand.