Rock’n’Roll im gallischen Dorf

Immer wieder ein Lieblingsplatz: Die Stadtmauer aus mächtigen grauen Steinen rund um Intra-Muros, die Altstadt von Saint Malo. Die Boulespieler zwischen den klotzigen Steinwällen und dem Fähranleger sind eine unglaubliche Ansammlung der Skurrilität auf zwei Beinen, sie erinnern an Uderzo und Goscinny: Das gallische Dorf lebt, genau hier und jetzt. Methusalix und seine Freunde debattieren knifflige Fragen der angemessenen Wurftechnik für die bunten Kugeln. In den Ritzen der Stadtmauer sind sorgfältig dicke Nägel festgeklemmt; daran hängen nicht nur Jacken und Mützen aller Formen und Farben, sondern auch ein Zählbrett für den Punktestand der Partie Boule Bretonne. »Nous«, »wir« auf der einen Seite, leicht despektierlich „Eux“, »die« auf der anderen – für die gegnerische Mannschaft.

Durch die Zahnlücken der betagten Boulespieler gezischelte Gespräche verwehen im Wind. Ein älterer Herr kommt später dazu, ein wenig aus der Puste; auf einem klapprigen, verrosteten Fahrrad strampelt er über den Gehweg. Leise rasselt die Kette am Blech entlang, rechts am Lenker baumelt die Tüte einer Supermarktkette. Weinflasche und ein Baguette lugen hervor, die richtige Verpflegung für eine Partie Boule im Sonnenschein. Links am Lenker zappelt eine gestreifte Plastiktasche mit zwei Ohren, flauschigem Fell und Knopfaugen: Der vierbeinige Pudelspitzirgendetwas kläfft munter vor sich hin. Und die grundlegende Frage des Tages lautet: »Rollen oder werfen?«

Wehe dem ortsunkundigen Besucher, der des Morgens die noch verlassenen Bahnen für eine gepflegte Runde Kugelschubsen nutzen möchte: »Strictement reservé à la Boule Bretonne!« verkündet ein sorgfältig handgemaltes, hölzernes Schild an jeder Bahn. Man muss sie einfach lieben in all ihrer Verschrobenheit, die bretonischen Boulespieler, es bleibt einem gar nichts anderes übrig. Insbesondere dann, wenn sich die freundliche ältere Dame mit der Wasserwellenfrisur zu den Herren verirrt. Sie, als einzige weibliche Beteiligte der Runde, genießt hohen Respekt der Herren. »Madame«, anders wird sie kaum angeredet. Und ab und an bringt ihr einer der Herren Blumen mit, die er mit charmantem Lächeln, tiefer Verbeugung und angedeutetem Handkurs überreicht.

Angesichts der betagten Herrschaften, die trotz Gehbehinderungen, gebeugter Haltung und diverser Zipperlein immer noch unermüdlich die Kugeln durch die Gegend rollen und werfen, beschleicht einen der gleiche, leise Verdacht wie bei der Lektüre der Todesanzeigen in den bretonischen Tageszeitungen: Man wird bei dieser Lebensweise offenbar steinalt. Die Zahl derer, die weit jenseits der 90 Jahre »survenu«, »disparu« oder profan »mort« sind, ist beträchtlich.
An der Zeitung kann’s nicht liegen, ihre Lektüre hat zwischen Knipsebildchen und Vereinsberichten eher einschläfernde Wirkung, das papierne Teil taugt bestenfalls – für den Fisch. In der Minderheit sind ganz klar diejenigen Bretonen, die unter 60 sterben; den Anzeigen ist zu entnehmen, dass meist schnöde Zivilisationskrankheiten oder Unfällen im Straßenverkehr daran schuld sind. Erstere Ursachen liegen vermutlich in der Enthaltsamkeit der Kategorien »Non-Fumeur«, Nichtraucher oder »Nichttrinker«, letztere möglicherweise im beträchtlichen Genuß von Pastis und Calvados.

Sei’s drum, die paar Figuren zählen sowieso nicht. Aber vielleicht liegt die Sache mit dem beträchtlichen Lebensalter auch daran, dass die Bretonen zu den absonderlichsten Jahreszeiten und Witterungsbedingungen im Meer zu schwimmen pflegen. Jeden Morgen watet eine rüstige Dame bei einer geschätzten Außentemperatur von ungefähr 10 Grad und einer Wassertemperatur von maximal 8 Grad mit stoischer Gelassenheit in die Fluten. Eine halbe Stunde lang schwimmt sie vor der Plage des Bas Sablons hin und her. Dann steigt Madame völlig ungerührt, mit perfekt sitzender, blauvioletter Betonfrisur wieder aus dem Meer. Bleibt einen Moment an der Promenade sitzen, eingehüllt in den mitgebrachten Bademantel, klaubt aus dessen Taschen ein Päckchen Gitanes und zündet sich genüsslich eine Zigarette an. Ein paar tiefe Züge, dann verschwindet sie in einem der Häuser an der Strandpromenade. Vermutlich leidet der Hausarzt des kleinen Ortes an schweren Depressionen: Weil die mittlerweile 84jährige Seniorin dank eines Immunsystems wie ein kanadischer Grizzly geradezu ekelerregend gesund ist.