Waldmorgenwelt, Frühling

web_20150504_iPhone-9948_2Ganz früh unterwegs: Das Licht wechselt von grau zu sanfter Farbigkeit. Die Waldmorgenwelt ist ein großer Gesang aus Vogelstimmen, Blattwispern und Regen, der von den Blättern tropft. Niemand außer mir ist unterwegs, kein Schritt stört die Sanftheit dieses beginnenden Tages. Trittsiegel im morastigen Boden verraten die Anwesenheit anderer Waldbewohner: Zierliche, paarige Abdrücke in unterschiedlicher Größe, vor kurzem waren hier Rehe mit Jungtieren unterwegs. Ein wenig gröbere Spuren signalisieren, dass die Stippvisite der Wildschweinrotte schon eine Weile zurückliegt. Ihr charakteristischer Geruch ist nur noch schwach zu spüren; es wäre keine Begegnung, die ich so früh am Morgen zu schätzen wüsste. Mit Frischlingen im Schlepptau sind die Bachen normalerweise übellaunig.

In das weiche Tropfen und Rauschen mischt sich ein ferner Trommelwirbel auf Holz. Zwischen Grünspechtgelächter und Pirol klingen Kuckucksrufe. Vielleicht doch das Portmonnaie kurz schütteln, damit sich das Geld von selbst vermehrt, wie es ein alter Aberglaube behauptet? Knacken im Unterholz, dort balgen sich geräuschvoll zwei Hasen, dass die Wolle nur so fliegt. Ringsum Grüntöne, wie sie nur um diese Jahreszeit zu sehen sind: millionenfach schattiert, die regenschweren, jungen Zweige neigen sich zum Waldboden, ihre zarten Blätter ein leuchtendes Dach über dem Weg. Immer sind es die Bäume, die mich verzaubern, mir Geschichten erzählen im Laubflüstern, mit ihren Wurzeln Heimat sind, Kraftort und Geborgenheit. Rose Ausländer schrieb über deren Schönheit einst: »Jeder Baum ein Gebet das den Himmel beschwört.«

Der Wald atmet feuchtwarme Schwüle und treibt den Schweiß aus allen Poren. Hinauf in die Bäume winden sich Geissblattranken, ihre Knospen mit den weißen Spitzen lassen den Duft schon ahnen, derweil in den Tümpeln die Teichmolche auf- und abtauchen, die Wasserschnecken gemächlich ihre Bahnen ziehen. Dunststreifen zwischen den Bäumen, in denen Buschwindröschen sich dem Licht öffnen. Die Walderdbeeren blühen, erste Maiglöckchen mischen sich mit verblassenden Veilchen. Es duftet nach Regen und Frühling, nach Schlehenblüten, Erde, Thymian auf der Wiese, nach Zuhause und Liebe und Leben. Die Pusteblumen am Waldrand sind struppig vom Regen.

»… im atmenden Wald
wo Grasspitzen
sich verneigen

weil
es nichts Schöneres gibt.«

(Rose Ausländer, 1901 – 1988)