Notizen von unterwegs: Zum Goldenen Tiger

Prag - ©HeikeRost.com - Alle Rechte vorbehalten.Wehe dem Gast, der im „U Zlatého Tygra“ einen der Stühle besetzt, die mit der Rückenlehne schräg am Tisch lehnen! Die Kellner verscheuchen den Besucher ziemlich schnell, sind diese Stühle doch einzig den Stammgästen der Prager Bierstube vorbehalten, die nachmittags ab drei Uhr das kleine Lokal mit lautstarkem Leben erfüllen. Eigentlich ist es immer voll dort, Stimmengewirr im Raum, das geleerte Bierglas wird flugs durch ein frisch gefülltes ersetzt. Pilsener Urquell frisch gezapft vom Fass, das beflügelt Gedanken und Sprache. Mancher Gast sitzt schweigend, sinnierend dort, blickt vor sich hin, denkt und träumt mit lebendiger Mimik, erzählend auch ohne Worte: Stundenlang. Gesichter voller Poesie, verborgen in Falten und Fältchen, aus Augenringen, Stirnfalten und Mundwinkeln hervorblitzend, schelmisch, traurig, ernst oder lächelnd. Man »bafelt«, wie der große Bohumil Hrabal, Stammgast im Goldenen Tiger, das beschrieben hat: Mal mehr oder weniger tiefsinnig, aus Freude am Gespräch, am Plaudern und daran, den Gedanken Flügel zu verleihen.

 

Zwei ältere Herren sitzen nebeneinander am Tisch. Die Hand am Griff des Bierglases, versunken in Gedanken, ihre Finger folgen den Spuren, die Messer, Gläser, scheuernde Bürsten auf der Tischplatte hinterlassen haben. Paralleler Geradeausblick in tiefem Schweigen, gelegentlich hebt eine schwielige, knorrige Hand das Glas, ein tiefer Zug frisch gezapftes Bier, der Humpen knallt nachdrücklich wieder auf den Tisch. Immer noch Schweigen. Wie auf ein lautloses, geheimes Kommando wenden sich die beiden plötzlich einander zu. „Es ist früh kalt dieses Jahr!“ dröhnt der linke Herr seinem Nachbarn zur Rechten grimmigem Tonfalls zu. Dann wenden sich die beiden wieder voneinander ab. Geradeaus blickend, schweigend, grimassierend. Stirnrunzelnder Blick auf das fast leere Bierglas und hinüber zum Wirt, ein fast unmerkliche Bewegung des Kopfes. Nur Augenblicke später das nächste, frisch Gezapfte auf dem Tisch. Immer noch Schweigen. Über den Köpfen der beiden tickt eine große Uhr vor sich hin, ihr Zeiger wandert weiter. Eine Weile später, es mag eine halbe oder gar dreiviertel Stunde gewesen sein, wenden sich die beiden Gäste wieder einander zu: Die Hand des rechten Herrn knallt flach auf’s dunkle Holz der Tischplatte:  „Ja!“ bellt er. Kurz und bündig, nicht mehr. Gedankenverloren, in sich versunken, sinnieren sie weiter, Gedankenreflexe wortlosen Erzählens im Gesicht. Bafelnd.

 

Am Tisch nebenan hält ein Herr mit sonorer Stimme einen langen Monolog. Ob ihm außer seinem unsichtbaren Auditorium einer der Biertrinker im „Tiger“ zuhört? Von einem seiner Nachbarn kommt jedenfalls Applaus – nicht unbedingt immer passend zum Gesprochenen. Meint das tatsächlich den Bafler? Das Phantasiewort Bohumil Hrabals mag hier seinen Ursprung gehabt haben, im Stimmengewirr der Pivnice, auf die kein Schild und keine Speisekarte neben dem Eingang hinweist. Es ist ein seltsam schöner, fremdartiger Platz, an dem die Zeit langsamer verrinnt: „Das Städtchen, in dem die Zeit stehen blieb“ nannte Hrabal eines seiner wunderbaren Bücher. Beim Bier, tagaus, tagein, bei jedem Wetter und in jeder Stimmung war der Dichter Stammgast und beobachtete die Linien der Einsamkeit, die sich im Goldenen Tiger zu Gesprächsrunden kreuzten und wieder voneinander trennten. Skurril und merkwürdig sind seine Geschichten, zärtlich-traurig, beobachtend einsam, beim Bier ersonnen, in einer grandiosen Mischung aus Realität, sezierendem Blick und funkensprühender Fantasie. Mit einem Schlusspunkt, traurig, melancholisch und so passend zu Prag, zu Bohumil Hrabal: Der vierte „Prager Fenstersturz“ fand 1997 statt – der greise, wortgewaltige Dichter stürzte beim Taubenfüttern aus dem Fenster.

 

U Zlatého Tygra (Zum Goldenen Tiger), Husova 228/17, Staré Město, Prag. Für Fans gibt’s auf der Website jetzt übrigens T-Shirts, Postkarten und anderen netten Schnickschnack.