Taxi Karascho – Russendisko auf vier Rädern

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Begegnung

Jurij schob seine abgewetzte Kappe tiefer ins Gesicht. „Oleg…,“ nuschelte er dann bedächtig, „Oleg, das ist ein anderes Kapitel.“ Jurijs bester Freund verdient seine Brötchen damit, dass er Berlin-Besucher im Taxi durch die Stadt fährt. Oft auf kurzen Strecken, von den Bahnhöfen zu Hotels, von dort zum Flughafen. Manchmal und immer öfter kutschiert er Touristen länger herum, gelegentlich sogar den ganzen Tag. Er kennt sich aus, mit Schuhläden, Nobelrestaurants und bei Bedarf auch mit zweifelhaften Spelunken. Und wenn Oleg erzählt, ist er nicht nur jeden Euro des ausgehandelten Fahrpreises wert. Es hört sich an, als wäre seine Stimme irgendwo zwischen Wodka, Papyrossi und Reisszwecken auf die Walz im hintersten Ural gegangen. Ihn, sein Taxi und seine Fahrkünste habe ich kürzlich kennen gelernt. Fragen Sie nicht. Oleg ist ein anderes Kapitel – und mit ihm durch Berlin zu stromern, ist ein Abenteuer für sich. Und schon gar nichts für empfindliche Gemüter …

Am Zustand des klapprigen Uralt-Daimlers hat das nicht gelegen, auch nicht an dessen ausgeleierter, wolkenweicher Federung. Dem Fahrgast hämmert das jeden Ameisenknochen auf der Straße dermaßen ins Kreuz, dass es nur so kracht. Hinter den Vordersitzen rollten klirrend Flaschen umher. Ich habe sie bei der letzten Fahrt nachgezählt, vier volle, sieben leere, überwiegend mit handgeschriebenen Aufklebern versehen. Selbstgebrannter Wodka, den Oleg grinsend seinen Gästen anzupreisen pflegt: „Karascho! Spottbillig und putzt wie das Edelzeug aus dem Adlon!“ Auf dem Beifahrersitz rollte eine Handgranate herum. Oleg fingerte mit seinen Bratpfannenhänden daran herum, es klickte leise, er zündete sich mit dem Handgranatenteil die nächste Zigarette an. Selbst gebaut, sagte er – und schwieg vielsagend auf alle Fragen nach Bauanleitung und Herkunft.

Das verstaubte Armaturenbrett des Taxis war eine komplette Parallelgalaxie: Zwischen Ikonen und Heiligenplaketten klemmten Plastikrosen, dazwischen glitztern zahlreiche Embleme der ruhmreichen Sowjetarmee im Straßenlaternenlicht vor sich hin. Oleg putzte sie immer sehr sorgfältig, das gehört sich so, findet er. Den Staub drumherum ignorierte er wacker, schnippte nur gelegentlich eine Spinne lässig aus dem Seitenfenster. Immerhin hatte sein Vehikel sonst keine ungewöhnlichen Mitbewohner, Oleg reichte schon völlig. Im Fond der Rostlaube steckten einsam vier vertrocknete Pelmeni in den Ritzen der Polsterung, mittig auf der Rückbank ragte eine Sprungfeder durch die tabakverkrümelten Sitze. Und in der Windschutzscheibe wuchs ein beeindruckender Riss: Quer über die Scheibe, die Seitenverästelungen bilden ein interessantes Muster. Fast sah das wie ein Spitzenvorhang aus, passend zum Wohnzimmer-Plüsch der Taxideko.

„Was willst Du? Koffer in den Kofferraum packen?“ Schallend lachend klopfte sich Oleg auf die Schenkel. „Karascho, Du bist gut, geht nicht – voll!“ Er öffnete die knarrende Heckklappe, deutete mit ausladender Handbewegung auf das Innenleben: „…voll!“ Stimmt. Randvoll, um genau zu sein. Mit einem undefinierbarem Sammelsurium, zwischen Benzinkanistern und weiteren Flaschen quollen Plastiktüten hervor. Daneben eine Schüssel mit einem frisch geschlachteten Huhn, ein paar fremdartig aussehende Eisenteile drumherum. Nach meiner Begegnung mit der umgebauten Handgranate fragte ich nicht weiter. Und eigentlich wollte ich auch gar nicht so genau wissen, was der stämmige Russe außer seinen Fahrgästen sonst noch so transportiert. Auf der rasanten Fahrt über die Karl-Marx-Allee knallten Donnerschläge aus dem Auspuff, schwarze Qualmwolken flatterten hinterher. Geschepper und Gepolter aus dem hinteren Teil des Daimlers hörten sich an wie das komplette Waffenarsenal der Sowjetarmee im Anmarsch auf Berlin.

Um seine Fahrgäste machte sich Oleg durchaus Gedanken: Dann und wann streifte sein Blick in den Rückspiegel über die Mitfahrenden. Fürsorglich fragte er nach. „Brauchst Du Pause? Frische Luft? Soll ich anhalten?“ Ich habe dankend abgewinkt, denn irgendwann will man ja an seinem Fahrtziel ankommen, möglichst gesund und munter und nicht in Einzelteilen, Abenteuertour hin oder her. Mit dem Ellenbogen im Fenster lehnend, einen Lederhandschuh mit Gumminoppen an seiner rechten Hand, kurbelte Oleg lässig am Lenkrad. Lehnte sich in voller Fahrt aus dem Fenster, machte Autofahrern auf Parkplatzsuche Beine, ermunterte Fußgänger und eine gemächliche Radlerin lautstark zu ein wenig mehr Eile: „Karascho, Freundchen, dawai! Heb Deine Füße und steig in die Pedale, Schwälbchen, das gibt einen straffen Hintern!“. Quietschende Reifen und watteweiche Stoßdämpfer, die Rostlaube schlingerte rasant durch die Kurven kleinerer Straßen in Berlin-Mitte, um sich kurz danach auf einer der großen Verkehrsachsen in die Hundertschaften von Autos einzufädeln. Es roch nach Gummi und Sprit, nach Alkohol und den billigen Duftanhängern von der Tankstelle. Die bunten Plastikrosen am Armaturenbrett wippten dazu. Großstadtabenteuer unterwegs.

Zwischen Stau und Schrittgeschwindigkeit liegen Welten aus vier vollen Spuren Berliner Stadtring. Für Oleg kein ernstzunehmendes Hindernis, Vollgas voraus, was das Gaspedal hergab! Platz zum Überholen ist immer, notfalls auf den letzten Millimeter. Alles in Ordnung, da kann der Gegenverkehr noch so sehr lichtorgeln und hupen. Mit breitem Grinsen zwinkerte Oleg in den Rückspiegel: „Heute abend schon was vor, meine Taube? Berlin ist so schön, erinnert mich immer an Zuhause.“ Die dröhnenden Hupen ringsherum, um Olegs Taxi und mich übertönten gnädig meine Antwort. Auf dem großen Stern drängelte sich der Taxifahrer gnadenlos über die drei Kreisverkehrspuren; Maßarbeit inmitten von Luxuskarossen, LKW, Taxis und Motorrädern. Ein, zwei Zentimeter Abstand zur Tür eines anderen Autos, millimeterweise an Stoßstangen und Seitenspiegeln vorbei geschrammt, passt dann schon. „Alles gut!“ knarrte Oleg. Nicht, dass er mich damit beruhigt hätte. Und seine charmante Einladung, mit ihm die russische Diaspora in der Hauptstadt zu erkunden, habe ich – der journalistischen Neugier zum Trotz – ausgeschlagen.

Über (dem maroden Berliner Haushalt sei Dank!) Schlaglöcher und Hauptstadtholperstraßen mit zahllosen Baustellen landeten wir nach wüsten paarundzwanzig Querfeldeinminuten doch noch wohlbehalten am Hotel, der Russe, sein Taxi und ich. „Autofahren? Hab ich bei russischer Armee gelernt. Mach Dir keine Sorgen, schöne Frau!“ Unter Sitzen und im Kofferraum klapptern melodisch die Metallteile, Oleg lächelte und summte drei Halbtöne daneben das fröhliche Gedudel aus dem Radio mit. Hätte mich Jurij nicht schon vor Fahrtantritt mit ein paar Hinweisen auf die Wurzeln von Olegs eigenwilligem Fahrstil versorgt und auf den ebenso merkwürdigen Zustand des Taxis zwischen Altmetallsammelfuhre, Wodkatransporter und Tiefflieger hingewiesen, wäre ich vermutlich hyperventilierend und hysterisch schreiend auf dem schnellsten Weg aus dem Lottervehikel geflüchtet. Aber seine Anekdoten und Histörchen hatte Jurij sehr überzeugend mit der Bemerkung verbunden, dass sein taxifahrender bester Freund noch nie einen Unfall gehabt hätte: „So sicher wie das Finanzamt, ich schwör’s!“

Beim Aussteigen musterte Oleg dann mit besorgter Miene mein leicht verfärbtes Gesicht, langte unter den Fahrersitz und brachte eine angebrochene Flasche Schnaps zum Vorschein. „Willst Du selbstgebrannten Wodka? Sehr gut! Beruhigt!“ Das hochprozentige klare Zeug aus der handbeschrifteten Flasche, von Oleg in einem zierlichen Gläschen kredenzt, war übrigens sehr lecker. Und die Angst vor Unfällen wird sowieso überbewertet: Vermutlich sterben die Fahrgäste auf dem Rücksitz auch so tausend Tode. Immerhin war ich vorgewarnt, der Platz auf der Rückbank der vierrädrigen Russendisko war nicht schlecht; dort kriegt man nicht ganz soviel mit wie auf dem Vordersitz. Was auch völlig ausreichend ist, nebenbei bemerkt.

Zwei Tage später habe ich zufällig Jurij wieder getroffen. Er saß gelassen an der Spree, eine Angel neben sich. Und grinste mich schuldbewusst an: „War’s schlimm? Mein Kumpel Oleg fährt wie eine gesengte Sau.“ Tatsächlich, darauf wäre ich nie gekommen. Falls ich Oleg noch einmal über den Weg laufen sollte, bin ich mir sicher: Nicht ohne ausreichendes Quantum Wodka. Vorher, vor der Fahrt, für mich und zur Beruhigung. Und Jurij hat mir übrigens schon seinen ebenfalls taxifahrenden Kumpel Pavel empfohlen…